Wie viele Vögel rasten und überwintern in Baden-Württemberg?
Am Bodensee etwa herrscht jetzt im Herbst Hochkonjunktur im Vogeltourismus. Wer geübt ist, ein gutes Fernglas besitzt und ein weinig Glück mit bringt, kann jetzt am Delta der Radolfzeller Aach bis zu 100 verschiedene Arten an einem Tag erleben! Denn viele Zugvögel überwintern hier oder machen Rast im Mündungsdelta und sammeln neue Reserven für den Weiterflug. Doch wie viele sind viele? Um das zu wissen, muss man genau hinschauen und zählen. In Baden-Württemberg hat die Wasservogelzählung im Rahmen des Monitorings rastender Wasservögel – das älteste Erfassungsprogramm, um die Bestandsentwicklung von Tierarten zu überwachen - große Tradition.
Mitmachen
Wer selbst aktiv werden möchte kann sich Fernglas und Schreibblock schnappen und mitmachen – vorausgesetzt man kennt sich in der Welt der Wasservögel gut aus. Die Umweltakademie bietet dafür spezielle Seminare und Fortbildungen an. Dabei werden die wichtigsten Vogelarten vorgestellt, die im Rahmen der Wasservogelzählung erfasst werden. Auch auf ihr Vorkommen in Deutschland, ihre Ökologie und ihre Gefährdung wird eingegangen. Ein wichtiger Aspekt der Seminare ist auch der Praxisbezug: An wen wendet man sich, um mitzumachen? Wie führt man die Zählungen konkret durch? Wie werden die Ergebnisse eingetragen und übermittelt? Weitere Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen gibt es im Veranstaltungskalender
Hintergrund
Oft bieten sich auch vor der Haustür Möglichkeiten für ornithologische Erkundungen: Ein Bach, ein Löschweiher, ein Park- oder Fischteich oder ein Baggersee ist vielleicht auch in Ihrer Nähe. Hier wird man sehr wahrscheinlich Stockenten und Blässhühner entdecken, vielleicht auch Teichhühner, Höckerschwäne, Graureiher und sogar den schillernd-bunten Eisvogel, dessen Bestand in den vergangenen Jahren in Baden-Württemberg deutlich zugenommen hat, was auf eine bessere Wasserqualität, strukturelle Verbesserungen an den Gewässern – Stichwort: Renaturierungen – und vor allem auch auf mildere Winter zurückzuführen ist. Denn die Art ist gar nicht so winterhart, wie es der Name möglicherweise suggeriert, weshalb ihr kalte Winter oft erheblich zusetzen und Bestandseinbußen die Folge sind.
Woher weiß man aber, dass der Bestand einer Art zu- oder abnimmt? Hat man das im Gefühl und merkt man das auch gleich? Eher nicht! Denn die Bestandsveränderungen der meisten Arten vollziehen sich in der Regel eher schleichend, oft nur im Bereich von ein bis drei Prozent pro Jahr. Und ob nun in einem bestimmten Gebiet beispielsweise 200 oder 196 Stockenten überwintern, ist für den normalen Beobachtenden praktisch nicht feststellbar, zumal noch ein gewisses Rauschen durch tägliche und saisonale Fluktuationen hinzukommt, so dass auch die „Bestandskurve“ selten gleichmäßig verläuft. Aber nach zehn oder gar zwanzig Jahren treten die Ausmaße der Veränderung dann doch deutlich zutage, insbesondere, wenn die Rückgänge stärker sind. Dann werden aus den aus den zwei bis drei Prozent nach zwanzig Jahren eben ungefähr 40-60 Prozent, was dann schon grob einer Halbierung gleichkommt.
Also, wie kommt man nun zu den Zahlen? Die Antwort lautet: durch das Monitoring rastender Wasservögel – oder auch „Wasservogelzählung“ (WVZ) genannt. Diese ist immerhin weltweit das älteste Erfassungsprogramm, um die Bestandsentwicklung von Tierarten zu überwachen, eben zu monitoren. Bereits in den 1950er Jahren gab es die ersten konzertierten Erfassungen in Deutschland und mit der Saison 1966/67 fanden die ersten bundesweiten Wasservogelzählungen statt, die methodisch mit den heutigen vergleichbar sind. Seither ist das zeitliche und räumliche Netz weiter engmaschiger geworden und man darf davon ausgehen, dass bei den beiden Hauptterminen der Zählung – November und Januar – in Baden-Württemberg weit mehr als 90 % des Bestands erfasst sein dürfte.
Da der Aufwand einer mehr oder weniger vollständigen Erfassung jedoch sehr hoch ist – immerhin waren 2014/15 über 670 Personen beteiligt, die mehr als 1000 Zählstellen bearbeitet haben – hat man sich darauf verständigt, nur alle sechs Jahre eine landesweite Erfassung durchzuführen. Die letzten großen Erfassungen fanden 2008/09, 2014/15 und 2020/21 statt, wobei sich die letzte Zählung gerade noch in der Schlussphase der Auswertung befindet.
Wie sieht es also aus im Ländle?
Bei der Erfassung im Januar 2015 wurden insgesamt 350.778 Wasservögel gezählt, wobei die Schätzungen von 380.000 Individuen ausgehen. Zum Vergleich: Im Januar 2009 wurden 331.199 Individuen gezählt (Schätzung: 360.000). Die vorläufigen Zahlen vom Januar 2021 deuten mit 300.327 Individuen auf einen deutlichen Rückgang hin.
Mit geschätzten 235.000 Wasservögeln im Januar 2015 (ca. 62 % der landesweiten Schätzsumme) ist der Bodensee das herausragende Gebiet für Wasservögel in Baden-Württemberg. Und es gibt jede Menge Arten, wie Singschwan, Spieß-, Löffel- und Schellente, die fast ausschließlich am Bodensee überwintern. Im internationalen Kontext ist vor allem das große Vorkommen der Kolbenente am Bodensee von herausragender Bedeutung. Diese große, attraktive und fast schon ein bisschen exotisch anmutende Art ist in Mitteleuropa nur sehr sporadisch verbreitet und kommt vor allem in der Steppenzone des östlichen Europas und westlichen Asiens vor. Bei der Novemberzählung 2014 zählten die Ornithologinnen und Ornithologen in Baden-Württemberg 17.874 Individuen, was 32,5 % der sog. „Zugweg-Population“ darstellt. Deshalb haben wir für diese Art in Baden-Württemberg auch eine hohe Verantwortung, was ihren weltweiten Schutz betrifft.
Exoten im Aufwind
Ist die Kolbenente vielleicht optisch ein Exot ist es die Nilgans auch tatsächlich. Ihre Heimat liegt in Afrika hauptsächlich südlich der Sahara, und sie hat Europa auch nicht auf natürlichem Wege erreicht, weshalb man auch von einem Neozoon, einem Neubürger der Tierwelt, spricht. In solchen Fällen hat immer der Mensch seine Finger im Spiel. Mal sind es absichtliche Aussetzungen, mal büxt ein Tier aus einer Haltung aus und wieder ein anderes Mal reist es als blinder Passagier in einem Frachtraum eines Schiffs oder Flugzeugs mit. Die Nilgans war schon immer ein beliebter Vogel an Höfen, in Parks oder Zoos. Immer wieder kamen Individuen frei und bauten dann Populationen in freier Wildbahn auf – und das zuletzt äußerst rasant. Ab 1993 kam es zu ersten Bruten in Baden-Württemberg und in den 2000er Jahren zu einer starken Zunahme, die bis heute anhält, was auch die Zahlen der WVZ eindrucksvoll belegen: Waren es im November 2008 noch 407 gezählte Nilgänse, so konnten die Mitarbeitenden bei der WVZ im November 2014 schon 888 Individuen registrieren und im November 2020 gar 3053 – und dabei ist die Art durch die WVZ nicht einmal so gut zu erfassen, da sie sich auch viel auf Wiesen und Äckern außerhalb der Zählgebiete aufhält. Da die Nilgans auch im Verdacht steht, heimische Arten zu verdrängen, ist die Entwicklung sehr kritisch zu sehen. Ein weiterer „Exot“ ist die Rostgans. Auch sie hat in den letzten Jahren ihren Bestand von 283 Ind. (Nov. 2008) auf 1004 Ind. (Nov. 2020) erhöhen können.
Stockente auf dem Rückzug
Von den Besonderheiten zurück zu den Arten, die bei uns die Hauptmasse an Wasservögeln ausmachen. Und hier ist es so, dass lediglich zehn Arten rund 88 % der Vogelindividuen ausmachen. Die zehn häufigsten Arten sind demnach (in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit – als Durchschnitt der sechs großen landesweiten Zählungen, s.o.): Reiherente, Blässhuhn, Stockente, Tafelente, Lachmöwe, Schnatterente, Kolbenente, Haubentaucher, Höckerschwan und Graugans. Die Rangfolge mag doch ein wenig überraschen, fehlen doch einige Arten, die man regelmäßig an den Gewässern sieht wie Graureiher, Kormoran, Teichhuhn oder Eisvogel. Sie sind zwar weit verbreitet, kommen allerdings an vielen Gewässern oft nur in wenigen Individuen vor. Andere wiederum dürften in der Bevölkerung kaum bekannt sein – und bei diesen ist es tatsächlich so, dass man sie in vielen Landesteilen selten zu Gesicht bekommt. Für sie spielt dann am Bodensee oder auch am Rhein die „Musik“.
Sorgen bereitet den Vogelkundlerinnen und Vogelkundlern indes eine Art, die viele sicher ganz vorne gesehen hätten, die tatsächlich aber „nur“ auf Platz drei rangiert: Die Stockente, die Wildente schlechthin. Hier sind insbesondere die Zahlen der Januarzählung zuletzt deutlich zurückgegangen: Von rund 61.600 Ind. 2009 auf rund 44.300 Ind. 2021. Das entspricht einem Rückgang von rund 28 %. In manchen Regionen wie der Landeshauptstadt hat sich der Bestand der Stockente sogar zwischen 1991 und 2020 um fast 75 % verringert. Bei einigen Arten – und wohl auch bei der Stockente – kann man hierfür unter anderem auch die milderen Winter verantwortlich machen: Wir bekommen weniger Zuzug aus dem Norden, da es sich mittlerweile auch weiter nördlich gut überwintern lässt.
Insgesamt herrscht eine hohe Dynamik und man darf gespannt sein, was die Zukunft für unsere Wasservögel bringen mag.